Künstliche Intelligenz zeigt noch wenig Verstand

Mathias Hein, Consultant, Buchautor, Redakteur
Mathias Hein, Consultant, Buchautor, Redakteur

Die Erwartungen an die künstliche Intelligenz (KI) werden derzeit künstlich aufgeblasen. Die Wahrheit lautet: Die künstliche Intelligenz wird sicher vieles ändern, aber sicher nicht so bald.

Das von Gartner entwickelte Konzept des Technologie-Hype-Zyklus beschreibt gut die Realität. Es geht davon aus, dass die Erwartungen an neue Technologien durch das Marketing und durch diverse heilversprechen schnell aufgeblasenen werden. Nachdem der erste Erwartungsgipfel überschritten ist, fällt die Kurve steil ab und hinterlässt viele enttäuschte Menschen. Erst nach dem Tal der Tränen verfestigen sich die Erwartungen und auf Basis realer Produkte entwickelt sich ein realer Markt. Die künstliche Intelligenz (Englisch: artificial intelligence; AI) hat sich seit mehr als 60 Jahren nicht wirklich von der Stelle bewegt und verharrt im Tal der Tränen. Erinnern wir uns an Stanley Kubricks Rechner „HAL“ (aus dem Film: 2001: Odyssee im Weltraum), der ganz natürlich mit den Menschen interagierte. Diese schöne Idee wird zwar immer wieder herauf beschworen, ist jedoch entgegen den populären Marketigsprechblasen nirgendwo in Sicht.

Die künstliche Intelligenz ist ein Teilgebiet der Informatik, welches sich mit der Automatisierung und intelligenten Verhaltens befasst. Der Begriff ist insofern nicht eindeutig abgrenzbar, als es bereits an einer genauen Definition von Intelligenz mangelt. Dennoch wird er in Forschung und Entwicklung verwendet. Die unterschiedlichen Forschungsbereiche der KI umfassen beispielsweise die heuristische Programmierung für Spiel-KI, natürliche Spracherkennung und -Verarbeitung und maschinelles Lernen für statistische Probleme. Im Allgemeinen bezeichnet künstliche Intelligenz  den Versuch, eine menschenähnliche Intelligenz nachzubilden, d.h. einen Computer zu bauen oder so zu programmieren, dass er eigenständig Probleme bearbeiten kann. Oftmals wird damit aber auch, besonders bei Computerspielen, eine nachgeahmte Intelligenz bezeichnet, womit durch meist einfache Algorithmen ein intelligentes Verhalten simuliert werden soll. Der momentane KI-Hype wird derzeit von fast jeder großen Technologie-Firma und unzähligen Startups befeuert, die den Begriff inzwischen inflationär in deren Unternehmenskommunikation benutzen.

Was ändert sich durch künstliche Intelligenz?

Die KI-Erwartungen sind hoch und werden durch jeden weiteren unkritischen Artikel zu diesem Thema noch gesteigert. Auch die vermeldeten Durchbrüche in den Kategorien „Wissensbasierte Systeme, Musteranalyse und Mustererkennung und Robotik“ tragen zu der Verunsicherung der Nutzer bei. Riesige Datensätze bilden die Grundlage für das maschinelle Lernen. Wissensbasierte Systeme modellieren aus den Datensätzen eine Form rationaler Intelligenz für die sogenannten Expertensysteme. Diese sind in der Lage, auf eine Frage des Anwenders auf Grundlage formalisierten Fachwissens und daraus gezogener logischer Schlüsse entsprechende Antworten zu liefern. Beispielhafte Anwendungen finden sich in der Diagnose von Krankheiten oder der Suche und Beseitigung von Fehlern in technischen Systemen. Auch der Fortschritt bei den Algorithmen, die auf Basis enormer Rechenleistungen und Daten liefern die notwendigen Reaktionen oder Vorhersagen für den Nutzer.

Ich will hier jedoch nicht ins gleiche Marketinghorn blasen und will gleich einmal eine unschöne Wahrheit verkünden: Diese Konzepte sind so alt wie das Rechnen selbst! Sollte sich inzwischen bei der künstlichen Intelligenz etwas ereignet haben, was ich nicht mitbekommen habe? Hat sich die KI plötzlich deutlich verbessert?

Ich glaube das nicht! Ein Computer schlug vor 21 Jahren einen menschlichen Schach-Champion, aber erst vor zwei Monaten gelang es einem Computer einen menschlichen Champion beim Go zu besiegen. Auch beim Spielen von Jeopardy und Pac-Man gab es beeindruckende Durchbrüche. Aus diesem Grund postuliere ich: KI wird definitiv die Welt verändern, aber wird gleichzeitig nicht die Marketingversprechen einhalten können. KI wird nie zum Allzweckwerkzeug. In speziellen Bereichen (beispielsweise dem selbstfahrenden Auto) schreitet die KI-Entwicklung schnell voran. Dagegen ist die KI in vielen anderen Lebensbereichen völlig nutzlos.

Die Beantwortung einer Frage fällt KI-Geräten leicht, aber das Verständnis der Frage ist höchst kompliziert

Ich habe noch keine allgemeine KI-Lösung gesehen, die mir im alltäglichen Leben hilft. Zum Beispiel schlägt mir Google-Assistant den besten Zeitpunkt vor, an dem ich mich für meine Reise zum Flughafen machen soll. Google-Assistant liegt meist falsch. Es stützt sich weitgehend auf meinen aktuellen Standort und die Verkehrslage. Mein persönlicher Algorithmus für die Bestimmung der besten Fahrtzeit zum Flughafen basiert auf einem relativ großen Datensatz. Ich nutze viele Variablen (Auto, Taxi, Bus, U-Bahn oder Shuttle-Bus) um zum Flughafen zu kommen. Wenn ich mit dem Auto fahre, dann plane ich den Faktor des Parkens in mein notwendiges Zeitbudget ein. Dann spielt natürlich auch noch das Abflugterminal und weitere äußere Bedingungen (Ferienzeit, Terrorwarnungen, oder auch die Länder in die ich fliege) eine Rolle bei der Berechnung der benötigten Zeit. Verfüge ich bereits über ein Bordkarte, muss ich noch Gepäck einchecken oder will ich vor dem Abflug noch etwas Essen gehen, haben ebenfalls einen nicht unerheblichen Einfluss auf mein notwendigen Zeitraum vor dem Abflug. Normalerweise nehme ich den Bus zum Flughafen und frage bei Google den hierfür notwendigen Busfahrplan ab. Der Google-Assistant erkennt jedoch nicht dieses Muster. Dabei wäre ich schon dankbar, wenn sich der Google-Assistant auf mein Standardverhalten einstellen und mir sagen würde, wann ich mich zu dem Flughafenbus aufmachen müsste.

Die notwendigen Daten zu ermitteln, um simple Frage beantworten zu können, ist nicht das Problem von Google. Die Schwierigkeit liegt darin, die Frage exakt zu verstehen und entsprechende Schlüsse daraus zu ziehen. Die Grenzen der Sprachverarbeitung sind offensichtlich. Fragt man Google-Assistant „Was ist 1374.294 x 384293999?“, dann erhält man die Antwort innerhalb von Millisekunden. Aber Google-Assistant kann uns beispielsweise nicht die Frage beantworten „Wird es dunkel sein, wenn ich nach Hause komme?“ Die Antwort ist nirgendwo auf dem Internet zu finden. Google kann diese Frage nicht beantworten, auch wenn das Unternehmen weiß, wo sich der Benutzer befindet, wo der Benutzer lebt und wann die Sonne an seinem Heimatort untergeht. Alle Stücke des Puzzles irgendwo auf einer von Googles Festplatten gespeichert. Aber eine vernünftige Antwort auf die gestellte Frage kann das System nicht geben, weil es nicht auf die semantische Bedeutung dieser Frage reagieren kann. Eine Option zur Lösung dieses Problems wäre eine gigantische Datenbank von allen Dingen anzulegen, die es auf dieser Welt gibt. Hierzu wären Petabyte und Petabyte an Daten notwendig. Solch ein Lösungsansatz skaliert nicht und die verschiedenen Informationen auf dieser Welt lassen sich nicht wirklich miteinander kombinieren. Der gesunde Menschenverstand lässt sich nicht von einem simplen Computer ersetzen. Die Lösung der „unbeantwortbaren Frage“ erfordert das Verständnis der Beziehung zwischen der Frage und den Daten. Dieses Puzzle ist extrem schwer (eventuell auch nie) zu lösen. Daher bin ich der Meinung, dass wir noch immer weit von jeglicher künstlichen Intelligenz entfernt sind und sich (trotz aller Marketingankündigungen) nur die Suchalgorithmen verbessern.

Bedenkt man jetzt, dass Google-Assistant sechsmal häufiger eine Frage richtig beantwortet als Amazons Alexa (siehe hierzu auch den Artikel „Google Home Is 6 Times More Likely to Answer Your Question Than Amazon Alexa; http://www.adweek.com/digital/google-home-is-6-times-more-likely-to-answer-your-question-than-amazon-alexa) dann muss man an den KI-Fähigkeiten der Produkte erheblich zweifeln. Alexa verfügt seit einiger Zeit über „mehr als 15.000 Fähigkeiten“. Unter diesen Fähigkeiten versteht der Hersteller weitgehend nur einfache Web-Abfragen. Der KI-Teil verwendet statt der Tastatur jetzt eine Spracheingabe.

Die Suche nach mehr Intelligenz geht also weiter

Die künstliche Intelligenz steckt immer noch in den Grundlagen fest. In der Vergangenheit wurden die Erkenntnisse der künstlichen Intelligenz auf andere Gebiete der Informatik übertragen. Sobald ein Problem gut genug verstanden wurde, hat sich die KI neuen Aufgabenstellungen zugewandt. Inzwischen werden sind zahlreiche Anwendungen schwacher KI in unterschiedlichsten Techniken integriert. Hierzu gehören beispielsweise:

  • Suchmaschinen: Diese erleichtern den Umgang mit der im Internet vorhandenen Informationsflut.
  • Maschinelle Übersetzung: Zur Übersetzung von Text in die unterschiedlichsten Sprachen.
  • Data-Mining und Text-Mining: Stellen Methoden zur Extraktion von Kerninformationen aus nicht- oder nur schwach strukturierten Texten bereit.
  • Analyse und Prognose von Aktienkursentwicklungen werden gelegentlich durch künstliche neuronale Netze unterstützt.
  • Optische Zeichenerkennung liest gedruckte Texte zuverlässig.
  • Handschriftenerkennung wird in Geräten wie Smartphones und Tablets genutzt.
  • Spracherkennung ermöglicht die Sprachsteuerung oder das Diktieren eines Textes.
  • Gesichts- und Bilderkennung zur automatischen Auslese oder zur Überwachung von Menschengruppen.
  • In Computerspielen dienen die in der KI entwickelten Algorithmen dazu, computergesteuerte Mitspieler intelligent handeln zu lassen.
  • Bei Gruppensimulationen für die Sicherheitsplanung oder Computeranimation wird ein möglichst realistisches Verhalten von (Menschen-)Massen berechnet.
  • Ein wissensbasiertes System stellt Lösungen bei komplexen Fragestellungen zur Verfügung.
  • Selbstfahrende Kraftfahrzeuge sind Autos, die ohne Einfluss eines menschlichen Fahrers fahren, steuern und einparken.

Große Fortschritte erzielt die künstliche Intelligenz in jüngster Zeit im Bereich künstlicher neuronaler Netze auch unter dem Begriff „Deep Learning“ bekannt. Dabei werden neuronale Netze aus dem Gehirn künstlich auf dem Computer simuliert. Die Grundlagen dafür wurden bereits vor 40 Jahren gelegt. Jedoch macht erst die Leistungsfähigkeit heutiger Computer es möglich, solche neuronalen Netzwerke in brauchbarer Größe zu simulieren. Viele der jüngsten Erfolge wie bei Handschrifterkennung, Spracherkennung, Gesichtserkennung, autonomes Fahren, maschinelle Übersetzung beruhen auf dieser Technik. Dabei werden diese Systeme nicht mehr programmiert, sondern ähnlich dem menschlichen Gehirn mit Hilfe von Daten trainiert.

Aber auch bei kleinen Problemen steht die KI oftmals da wie „der Ochs vor dem Berg“. Die Entwickelung von selbstfahrenden Autos erfordert das Fahren der „neuen“ Autos von Millionen von Kilometern. Trotzdem stellen wir immer wieder fest, dass die KI erhebliche Lücken aufweist. Manchmal überrascht das Verhalten der selbstfahrenden Autos auch ihre Erfinder. Volvo hat vor kurzem festgestellt, dass seine selbstfahrenden Autos Kängurus nicht erkennen können. Die Herausforderung der besonderen Art an die selbstfahrenden Autos besteht in Australien in Form springender Tiere. Offenbar überfordert es den Tiererkennungs-Algorithmus von Volvo, wenn Kängurus über die Straße springen – und das dürfte zumindest in Australien nichts ganz Ungewöhnliches sein. Wenn die Tiere in der Luft sind, sieht es für die KI aus, als seien sie weiter entfernt, wenn sie am Boden aufkommen, erscheinen sie dagegen näher. Das Problem dabei ist, dass das selbstfahrende Auto seinen Referenzpunkt stets auf dem Boden sucht, den es durch die schnelle, nicht immer voraussehbare Bewegung der Beuteltiere nur schwer findet.

Ich freue mich, dass viele Leute Siri, Google-Assistant und Alexa manchmal hilfreich finden. Wir sollten uns trotzdem über die enormen Fortschritte der Suchmechanismen freuen. Der Zeitpunkt, an dem künstliche Intelligenz die menschliche Intelligenz übertrifft, ist jedoch noch sehr weit entfernt. Auch der Zeitpunkt an dem die weitere Entwicklung hauptsächlich von der KI vorangetrieben und nicht mehr vom Menschen, verschwindet damit hinter dem Horizont. Somit ist auch das Gerede über die Superintelligenz (Wesen oder Maschine mit einer dem Menschen überlegenen Intelligenz) hinfällig.

Wir Menschen sind mit unserer menschlichen Intelligenz (kognitiven Intelligenz, sensormotorischen Intelligenz, emotionalen Intelligenz und sozialen Intelligenz) den Maschinen haushoch überlegen. Es gilt jedoch, unsere uns Intelligenz auch zu nutzen.

#Netzpalaver