Neuronale Bildgebung – Ein neues Kapitel im Gesundheitswesen

Die frühzeitige Erkennung neuronaler Erkrankungen ist essentiell für deren erfolgreiche Bekämpfung. Aktuelle Entwicklungen in Physik und IT schaffen die Möglichkeit, Bildgebungsverfahren mit höherer Auflösung zu günstigeren Preisen zu kreieren. Das erfordert in der Praxis ein Umdenken auf vielen Ebenen – auch in der IT.

Dr. Mary Lou Jepsen ist ein echtes Silicon-Valley-Schwergewicht mit einer langjährigen Erfolgsgeschichte. Jepsen, die vom Time Magazine zu einer der hundert einflussreichsten Personen der Welt ernannt wurde, hatte leitende Positionen bei Facebook, Oculus, Google und Intel inne. Sie war an der Gründung von nicht weniger als vier Hardware-Unternehmen beteiligt, darunter als CTO der Initiative One Laptop per Child (OLPC). Ihre Unternehmen haben Produkte im Wert von Milliarden von Dollar ausgeliefert. Sie war Professorin am MIT und ist die kreative Kraft hinter rund 250 Patenten.

Dr. Mary Lou Jepsen auf dem NetEvents Summit

Ihr neuestes Projekt ist vielleicht ihr interessantestes und ehrgeizigstes. Als Mitbegründerin von Openwater hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, die neuronale Bildgebung zu revolutionieren und der Gesundheitstechnologie eine völlig neue Richtung zu geben. Ausgehend von der Überzeugung, dass alle Patienten ein Recht auf rechtzeitige Versorgung haben, entwickelt Openwater Bildgebungslösungen, die zum Beispiel die düsteren Statistiken über die Folgen von Schlaganfällen verändern sollen.

 

Ernüchternde Statistiken

Bei einem Kamingespräch auf dem kürzlich stattgefundenen NetEvents Global Media Summit in San Jose gab Jepsen einen Einblick in die Problemstellungen und wie man sie angehen kann. Am Anfang steht die ernüchternden Feststellung, dass etwa die Hälfte der Menschen im Publikum damit rechnen muss, an Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Herzinfarkt oder Schlaganfall zu sterben. Das nächste Viertel wird an Diabetes, Nierenerkrankungen oder Infektionen wie COVID sterben. Diejenigen, die das Glück haben, 80 oder 90 Jahre alt zu werden, werden von der einen oder anderen neurodegenerativen Krankheit heimgesucht.

„Und doch denken wir alle, wir seien unsterblich“, sagt sie. Als sie vor sieben Jahren bei Facebook an fortschrittlichen Virtual-Reality- und Augmented-Reality-Lösungen arbeitete, kam Jepsen zum ersten Mal der Gedanke, dass es bessere Möglichkeiten für den Umgang mit Problemen am Ende des Lebens geben könnte: „Ich habe darüber nachgedacht, dass die Pixelgröße von Kamerachips immer kleiner wird als eine Wellenlänge des Lichts, was eine andere Art von Physik ermöglicht“, erklärte sie. „Das könnte uns in die Lage versetzen, das Innere unseres Körpers in höherer Auflösung zu sehen – höher und auch billiger – als wir es heute mit MRT- oder CT-Technologie können. Diese Multimillionen-Dollar-Scanner haben viele Leben gerettet, aber mit neuen Ansätzen für die Bildgebung können wir nicht nur Krebserkrankungen, sondern auch psychische Erkrankungen und neurodegenerative Probleme angehen.“

Sieben Jahre nach dem selbstfinanzierten Versuch, Antworten auf diese Fragen zu finden, macht Openwater große Fortschritte: „Wir bauen ein einziges Stück Hardware, das Krebs und psychische Erkrankungen wie Depressionen, Zwangsstörungen, Sucht und Schlaganfälle behandeln kann“, erläutert sie. „Die Hardware arbeitet mit sehr niedrigen Frequenzen und Intensitäten und hilft zum Beispiel bei der Bekämpfung des menschlichen Glioblastoms, einer tödlichen Form von Hirnkrebs. Sie basiert auf der Entdeckung einer mechanischen Eigenschaft aller aggressiven Krebsarten, die von keiner der bestehenden Therapien genutzt wird. Die derzeitigen Therapien basieren auf Bestrahlung und Chemotherapie, die sowohl den Krebs als auch die gesunden Zellen schädigen, auch wenn sie dem Krebs mehr schaden. Wir haben an der UCLA menschliche Hirnorganoide mit Glioblastomen gezüchtet und festgestellt, dass wir die meisten dieser Zellen fünfmal wirksamer abtöten können als die beste Chemotherapie. Wir hoffen, dass wir Ende dieses Jahres für den Einsatz am Menschen bereit sind.“

 

Regulatorische Probleme

Was sind also die wichtigsten ungelösten Herausforderungen, die vor Openwater liegen? „Viele davon sind regulatorischer Natur“, erklärt Jepsen. „Wir haben beispielsweise einen Schlaganfalldetektor entwickelt. Der Schlaganfall ist die zweithäufigste Todesursache in der Welt, und die große Mehrheit der Opfer stirbt an einem so genannten großen Gefäßverschluss. Die meisten Menschen, die daran erkranken, sterben oder können zumindest nicht mehr gehen oder sprechen. Aber wir wissen, wie man Gerinnsel auflöst, warum also sterben so viele Menschen daran? Es geht um den Zeitpunkt der Diagnose. Wenn ein Patient eine Thrombektomie benötigt, muss er schnell in die richtige Abteilung gebracht werden. In vielen US-Bundesstaaten ist es jedoch gesetzlich vorgeschrieben, dass sie erst nach den Opfern von Schuss- und Stichverletzungen und Herzinfarkten behandelt werden, weil in diesen Fällen die Krankheit viel offensichtlicher ist. Erst wenn man diese Phase überstanden hat, wird man vielleicht gescannt, um festzustellen, ob es sich um einen Schlaganfall handelt. Bis zur Thrombektomie kann es dann noch zwei Stunden dauern. Wir setzen einen Kamerachip ein, mit dem die Ärzte schnell sehen können, was nötig ist, um den Prozess zu beschleunigen. Wir haben die Daten zusammengetragen, um dies der FDA zu beweisen, und wir erwarten die Zulassung im nächsten Jahr.

Doch vor der Implementierung neuer Technologien im Gesundheitswesen stehen auch die Bedenken von CIOs im Hinblick auf die Infrastruktur und die Sicherheit. Verhindern sie die schnellerer Einführung entsprechender Technologien in Hospitälern oder Krankenwagen?

„Wenn man es mit Krankenhäusern und Krankenwagen zu tun hat, ist das alles wichtig“, erklärt Jespen.  „Als ich bei Google und Facebook gearbeitet habe, haben wir eine gute Infrastruktur als selbstverständlich angesehen. Wenn man allerdings in ein Krankenhaus geht, bekommt man kein Internet, wo man will. Es ist stark reguliert. Es ist nicht förderlich, wenn man 10 Mal klicken muss, wenn jede Minute zählt. Es ist frustrierend, wenn die Anonymität eines Patienten für ein Krankenhaus wichtiger zu sein scheint als seine Versorgung. Bei einem Schlaganfall gehen zwei Millionen Neuronen pro Minute verloren. Gibt es da nicht eine Möglichkeit, die Dinge zu beschleunigen, vielleicht mit 5G? Daran arbeiten wir.“

Der nächste Schritt für Openwater besteht darin, das Gerät in so viele Hände wie möglich zu bringen, indem es aus einfachen, handelsüblichen Teilen gebaut wird, wie z. B. den Lichtsensoren, die in Smartphones und Kameras verwendet werden. Dann will Openwater die Bildgebung nicht nur Ärzten in Industrieländern zur Verfügung stellen, sondern auch in Ländern, in denen es an der notwendigen medizinischen Infrastruktur mangelt. Mit ihren neuen Ansätzen zu Themen wie der medizinischen Bildgebung trägt Jepsen dazu bei, ein neues Kapitel in der globalen Gesundheitsversorgung zu schreiben.