Cloud-ERP im Mittelstand – Balanceakt zwischen Prozessharmonisierung und Modifikationen

Cloud-Computing hat sich bei einem Großteil der Wirtschaftsunternehmen in Deutschland, insbesondere auch im Mittelstand, längst zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer IT-Strategie entwickelt. Laut Bitkom wollen in fünf Jahren mehr als die Hälfte (56 Prozent) aller Unternehmen ihre IT-Anwendungen aus der Cloud betreiben. Bietet diese Technologie – aufgrund einer bedarfsabhängigen Bereitstellung von IT-Ressourcen zu nutzungsabhängigen Preisen – nicht zuletzt mehr Flexibilität, einen hohen Skalierungsgrad und beträchtliche Kostenvorteile gegenüber Onpremise-Konzepten. Trotzdem ist der Mittelstand, wenn es darum geht, ihre ERP-Kernsysteme in die Cloud zu migrieren und einem IT-Partner anzuvertrauen, noch immer eher zögerlich – auch wenn rein wirtschaftlich vieles dafürspricht. Sowohl technisch als auch strategisch bestehen hier offensichtlich noch immer gewisse Vorbehalte.

 

Die Qualität der Lösungen bleibt entscheidend

Die Cloud-Technologie an sich ist kein Allheilmittel, um den wachsenden Herausforderungen einer kompetitiven globalen Wirtschaft erfolgreich zu begegnen. Sie ist lediglich ein Instrument, um Lösungen schnell, effizient und kostentransparent bereitstellen zu können. Im Fokus des wirtschaftlichen Erfolges steht allerdings noch immer die entwickelte Business-Applikation selbst. Erfüllt ein ERP-System die komplexen und differenzierten Anforderungen von Kunden durch die bereitgestellten Dienste und Funktionalitäten nicht ausreichend, kann sie keinen echten unternehmerischen Nutzen bieten und wird in der Konsequenz am Markt kaum erfolgreich sein. Deshalb gilt es zunächst eine hohe Lösungsqualität zu erreichen, bevor man sie Anwendern bereitstellt. Erst wenn das umfassend gewährleistet ist, kann die Frage nach einem passenden Provisionierungsmodell des ERP-Systems gestellt und sinnvolle Antworten darauf gefunden werden.

 

Standardisierungsgrad von entscheidender Bedeutung

Nicht zuletzt sind hier die mit der eigenen Lösung adressierten Branchen und deren Standardisierungsgrad zu berücksichtigen. So ist beispielsweise der Automotive-Sektor stark normiert und wird wohl auch zu den ersten Branchen gehören, die ihr ERP komplett in die Cloud verlagern. Viele Unternehmen, gerade im Mittelstand, zeichnen sich jedoch durch einen hohen Individualisierungsgrad ihrer Prozesslandschaft aus. Dieser schafft einerseits zwar wettbewerbsentscheidende Alleinstellungsmerkmale, kann aber den wertschöpfenden Einsatz von Cloud-Infrastrukturen hemmen.

Bevor das ERP-System aus der Cloud in einem Unternehmen eingeführt werden kann, ist es deshalb besonders wichtig zu prüfen, ob und wie sich der Grad an Modifikationen, die aufgrund einer individualisierten IT- und Prozesslandschaft notwendig sind, reduzieren lässt und welche Interfaces gegebenenfalls nicht zwingend erforderlich sind. Einfache Anforderungen können so häufig über einen Standard abgewickelt werden. Ein weiterer Ansatz ist der Weg über Best-Practice-Prozesse, die im ERP-Produkt bereitgestellt und gemäß dem Branchenstandard implementiert werden. Insgesamt ist es entscheidend, den Ist-Zustand der gesamten Prozesslandschaft zu ermitteln und zu bewerten. Nur mit dem daraus resultierenden Wissen ist es möglich, die Vorteile einer Cloud-Implementierung bewerten zu können.

 

Hoher Nutzeffekt durch hybride Strategien

Da ERP-Systeme immer unternehmenskritisch und im Systemverbund eines Unternehmens hoch vernetzt sind, haben reine Cloud-Lösungen im Bereich der Fertigung auch heute noch eher Seltenheitswert. Die Mehrheit mittelständischer Produktionsbetriebe setzt in Sachen ERP-Nutzung weiterhin bevorzugt auf Onpremise-Modelle, wobei immer häufiger auch hybride Implementierungsmodelle genutzt werden. Jeder Kunde hat, sowohl technisch als auch wirtschaftlich, sehr individuelle Erwartungshaltungen an die Cloud. Je näher eine Applikation an den Kernprozessen eines Unternehmens liegt, desto komplizierter die Implementierung. Je weiter entfernt, desto einfacher kann diese als Multi-Tenancy-Architektur umgesetzt werden. Tatsächlich sind Lösungen im Bereich E-Procurement fast ausschließlich in der Cloud abgebildet, während komplexe und stark modifizierte Applikationen weiterhin als Onpremise-Modell implementiert werden. Eine hybride Strategie, sprich eine synergetische Verknüpfung beider Modelle, verspricht hier den größten Nutzeffekt.

 

Individualität darf kein Hemmnis darstellen

Der teilweise hohe Individualisierungsgrad mittelständischer Fertigungsunternehmen, insbesondere hinsichtlich ihrer Produktionsprozesse, stellt für ERP-Anbieter eine nicht unerhebliche Herausforderung dar. Er bedarf, je nach bestehender Prozesslandschaft eines Unternehmens, eine Vielzahl an Anpassungen und ein hohes Maß an Modifikationen der Standardinstallation. Das gestaltet sich in der Cloud jedoch nicht immer unproblematisch, da ohne eine umfassende Harmonisierung der Prozesslandschaft über Branchentemplates und Industry-Best-Practices deren Vorteile nicht bestmöglich ausgeschöpft werden können. Daher sollten Unternehmen die eigenen Fertigungsprozesse in konfigurierbare und industriespezifische Templates einpassen, wodurch eine sukzessive Harmonisierung der industriespezifischen Schlüsselprozesse im Standard erreicht werden kann. Das vereinfacht die Release-Fähigkeit von ERP-Systemen auf dem Weg in die Cloud erheblich und macht System-Updates zukünftig hinfällig. Den ERP-Herstellern obliegt es, sich an die unterschiedlichen Digitalisierungsgeschwindigkeiten ihrer Kunden anzupassen und diese dabei zu unterstützen, ihre traditionellen Kernsysteme sukzessive um neue, voll integrierte Cloud-Services zu erweitern.

 

Die Vorteile der Cloud sprechen für sich

Auch wenn viele mittelständische Unternehmen in Bezug auf Sicherheit, Kontrolle und Kosten noch immer zögerlich sind, was die Migration ihres ERP-Systems in die Cloud angeht, so sind die Vorteile eines solchen Schritts evident – sofern die Lösung für die Cloud ausgelegt ist. So können etwa beim 1:1-Cloud-Hosting gängige betriebsspezifische Erweiterungen am ERP-Standardsystem problemlos übernommen werden. Das erlaubt es, Geschäftsprozesse im Unternehmen adäquat abzubilden. Zudem kann ERP aus der Cloud meist schneller als eine Onpremise-Lösung implementiert werden, da es auf einer vorhandenen Infrastruktur aufbaut. In modernen mittelständischen Unternehmen spielen Hochverfügbarkeit und Datensicherheit eine zentrale Rolle. Deshalb ist bei ERP aus der Cloud – neben einer hohen Performance der Anwendungen – auch die Ausfallsicherheit gewährleistet. Voraussetzung sind entsprechende SLAs (Service Level Agreements), die selbst im Schadensfall die schnelle Verfügbarkeit der Daten gewährleisten.

Auch der so sensible Bereich Datensicherheit ist ein klares Argument für eine Cloud-Lösung, denn die Anzahl und Komplexität von Sicherheitsbedrohungen steigt kontinuierlich. Vor allem kleine und mittelständische Unternehmen verfügen zumeist nicht über die nötigen Kapazitäten und das ausreichende Know-how, um alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und das Unternehmen umfassend vor Kompromittierungen zu schützen. Seriöse Cloud-Anbieter verfügen hingegen über ein geschultes Team von IT-Sicherheitsexperten, das im Vollzeitbetrieb und unter Berücksichtigung rechtlicher Vorgaben für Daten- und Serversicherheit sorgt. Die Datenverarbeitung erfolgt dabei in zertifizierten Hochsicherheitsrechenzentren auf deutschem Boden. Dadurch wird gewährleistet, dass alle gültigen Datenschutzbestimmungen der EU und Deutschlands eingehalten werden.

Darüber hinaus bietet die Bereitstellung aus der Cloud klare Kostenvorteile, da der Wegfall hoher Anfangsinvestitionen in Lizenzen und Hardware dem Mittelstand einen deutlichen Liquiditätsvorteil beschert. Denn die Kosten für ERP aus der Cloud werden auf den kompletten Nutzungszeitraum verteilt und unterliegen nicht der Abschreibungspflicht. Aufwendungen für eine kontinuierliche Erneuerung der IT-Infrastruktur werden gleichzeitig über die laufenden Kosten abgedeckt.

 

Stärkere Mobilität und Entlastung des Tagesgeschäfts

Neue, flexible Arbeitsmodelle haben die Anforderungen an die Mobilität von Mitarbeitenden stark erhöht. Mit ERP aus der Cloud sind alle Funktionalitäten eines Systems zeit- und ortsunabhängig nutzbar. Zusätzlich werden die IT-Ressourcen mittelständischer Unternehmen entlastet, da das Monitoring und die Wartung der Infrastruktur über den Provider abgewickelt werden. Außerdem werden laufende Updates und das Patching der ERP-Anwendung beim SaaS-Modell vom Cloudanbieter bereitgestellt. Auf diese Weise kann der Mittelstand mehr Kapazitäten für strategische Aufgaben wie IIoT, Industrie 4.0, Machine-Learning und künstlicher Intelligenz – mit Fokus auf Innovationsentwicklung und Produktion – freisetzen.

 

Ausblick

ERP-Systeme werden sich langfristig in Richtung offener und komplett Cloud-nativer Microservices-Architekturen entwickeln, die auch hybrid und mit Anwendungen von Drittanbietern funktionieren. Das klassische, monolithisch aufgebaute ERP-Lösungskonzept wird aufgespalten und in standardisierte Services zerlegt. Kunden orchestrieren dann die eigenen Cloud- und Onpremise-Services abgestimmt auf ihre individuellen Anforderungen. Durch eine solche „Mix&Match“-Funktionalität können Prozesse umfassend optimiert und eine Art „Plug&Play“-Integration von Best-of-Suite mit Best-of-Breed-Technologien umgesetzt werden.

Von Alexander Krauter, Product Manager Cloud, Proalpha Gruppe