Flächensterben und leere Innenstädte, so sieht die Realität im deutschen Einzelhandel mitunter aus. Während der Onlineverkauf zweistellig zulegt, stagniert der stationäre Handel. Denn Kunden gehen immer seltener zum Händler um die Ecke, geben dafür aber mehr Geld im Internet aus. Die Folgen sprechen eine deutliche Sprache: Seit 2010 verlor der Einzelhandel laut einer aktuellen Erhebung des deutschen Handelsverbands rund 39.000 Standorte.
Erinnern Sie sich noch an die ersten Debatten rund um die Zukunft des Einzelhandels, die Mitte der 2000er Jahre aufkamen? Über die Auswirkungen, die der E-Commerce auf den stationären Handel haben wird? Diese Diskussion hielt nicht lange an, denn sie hat schnell neue Realitäten geschaffen. Anstatt gleichberechtigt zu konkurrieren, entwickelten sich Etailment und stationärer Handel schnell zu komplementären Strategien. Steigender Wettbewerbsdruck durch das Internet und eine veränderte Kaufkultur haben inzwischen auch im stationären Handel für einen technischen Wandel gesorgt. Längst gehören Retailer und Einzelhandelsketten zu den Unternehmen mit den höchsten digitalen Reifegraden. Doch während Innovationen in der Vergangenheit hauptsächlich im Bereich der Supply-Chain für mehr Effizienz sorgten, findet die digitale Transformation inzwischen auch unmittelbar auf der Ladenfläche statt. Mobile-Commerce und Retailtainment sind dabei nur einige der Trendthemen, die dem Einkauf vor Ort künftig mehr Attraktivität verleihen sollen.
IT-gestützte Retail-Technologien sind entscheidend für die Zukunft des Einzelhandels, denn sie ermöglichen die Adaption von erfolgreichen Verkaufsmechanismen aus dem Online-Handel auf den Store-Bereich: Persönliche Shopping-Vorschläge, Demand-Sensing und individuelle Preisangebote schaffen neue Kaufanreize und erschließen damit dringend notwendiges Umsatzpotenzial. Der digitale Reifegrad wird so zu einem entscheidenden Maßstab für die Wettbewerbsfähigkeit einer ganzen Branche. Moderne Retail-Anwendungen lassen sich aufgrund von Bandbreitenbeschränkungen jedoch nicht ohne Weiteres in die Cloud auslagern. Die dabei entstehenden Latenzen würden das Kundenerlebnis bei besonders rechenintensiven Anwendungen wie etwa intelligenten Umkleidekabinen zu stark beeinträchtigen. Auch Compliance-Anforderungen oder IT-Sicherheitsrichtlinien sprechen unter Umständen gegen eine Auslagerung bestimmter Softwareanwendungen in die Cloud. Der Schlüssel zu einer zukunftssicheren Digitalisierungsstrategie für Retail- und Einzelhandelsketten liegt deshalb in einer hybriden IT-Architektur, die Cloudservices auf intelligente Weise mit lokaler Rechenleistung verknüpft. Um Schlüsseltechnologien wie KI und Big Data im Shop-Bereich zu integrieren, reichen Rechen- und Speicherkapazitäten von einfachen PC-Lösungen jedoch nicht mehr aus. Die IT-Infrastruktur für das Shopping-2.0-Zeitalter heißt deshalb Edge-Computing.
Die Weiterentwicklung des Edge-Begriffs
Der Begriff Edge wird innerhalb der IT-Branche bereits seit vielen Jahren verwendet. Ursprünglich war mit „Edge“ einfach nur der Randbereich eines Netzwerkabschnitts gemeint, beispielsweise der Übergang von einem Weitverkehrsnetz (WAN) in ein lokales Firmennetzwerk (LAN). Heute bezieht sich der Begriff Edge auf ein umfassendes IT-Architekturmodell, bei dem zusätzliche Hierarchieebenen aus kleineren Rechenzentren zwischen zentraler Cloudapplikation und verschiedenen Endpunkten lokale Caching- oder Offload-Funktionen übernehmen. Während die ersten Edge-Computing-Anwendungen hauptsächlich innerhalb mittelgroßer Rechenzentren bereitgestellt wurden, um Videocontent regional zwischenzuspeichern und um Lade- und Antwortzeiten von Streamingangeboten zu verbessern, existiert heute bereits ein weites Feld an ganz unterschiedlichen Edge-Anwendungen: Angefangen bei Mobile-Edge über die Aggregation von Sensor- und Gerätedaten innerhalb von IoT-Netzwerken bis hin zu containerbasierten Edge-Native-Applikationen, die heute vermehrt als funktionale Erweiterung im Verbund mit Cloudservices eingesetzt werden. Doch so vielfältig die Einsatzszenarien und Anwendungen sind, so unterschiedlich gestalten sich auch die Anforderungen an die jeweilige Rechenzentrumsinfrastruktur.
In den vergangenen Jahren hat das Angebot an Micro-Datacenter-Lösungen für Edge-Umgebungen stark zugenommen, auch wir bei Schneider Electric haben hier ein umfassendes Sortiment geschaffen, das die verschiedensten Anforderungen im Retail-Edge-Umfeld berücksichtigt. Tatsächlich ist eine allgemeingültige Definition eines Edge-Rechenzentrums jedoch relativ schwierig, denn wie groß und komplex ein Micro-DC sein muss, hängt letztlich von der unterstützten Anwendung ab. Typische Edge-Umgebungen für den Retailbereich bestehen in den meisten Fällen aus Micro-Datacentern, die direkt in die jeweilige Einzelhandelsumgebung integriert sind. Sie stellen Rechenleistung und Speichermöglichkeiten zur Verfügung und unterstützen anspruchsvolle Anwendungen wie Big-Data und KI. Zusätzlich erweitert Edge-Computing zentrale Cloudanwendungen um Echtzeit-Funktionen. Edge-Datacenter stellen aufgrund ihrer Leistungsdichte und Kompaktheit jedoch hohe Anforderungen an die IT-Infrastruktur und die Ausstattung der Rechenzentrumsstandorte. Der Betrieb von unternehmenskritischer IT-Ausrüstung an Standorten ohne kontrollierte Umgebungsbedingungen ist eine Herausforderung: Staub, schlechte Klimatisierung, Durchgangsverkehr von Kunden und Personal oder mangelnde technische Kompetenz vor Ort können schnell zu teuren IT-Ausfällen führen. Infolgedessen sollte bei der Planung von Edge-Micro-Rechenzentren für den Retail-Einsatz viel Wert auf physikalische Sicherheit und Remote-Management-Funktionen gelegt werden. Die Überwachung von Zutritt sowie eine sichere Stromversorgung mit USV-Systemen, Klimatisierung und Temperatur-Monitoring gehören dabei zu den absoluten Mindestanforderungen.
Digital Retail im Edge-Bereich
Der stationäre Einzelhandel steht vor der großen Herausforderung, sich in weiten Teilen neu orientieren zu müssen, um mit den schnellen und flexiblen Geschäftsmodellen des Online-Handels Schritt halten zu können. Der Fokus auf Logistik und Supply-Chain-Optimierung allein wird jedoch nicht ausreichen, um Kunden immer wieder in die Innenstädte zu locken. Der Einsatz von Mikro-Rechenzentren in den Geschäften kann jedoch die Art und Weise, wie Einzelhändler ihre Geschäftsmodelle in Zukunft erneuern werden, revolutionieren. Lokale Big-Data- und KI-Anwendungen ermöglichen es Einzelhändlern in Zukunft nicht nur, bessere Entscheidungen zu treffen und die Effizienz ihrer Prozesse zu steigern, sondern auch völlig neue Kundenerlebnisse zu schaffen. Augmented-Reality (AR) und Virtual-Reality (VR) sind dabei nur zwei Beispiele für Technologien, die das Einkaufserlebnis für Kunden und Händler künftig bereichern werden. So können Kunden beispielsweise Kleidung virtuell anprobieren, Produktinformationen abrufen oder interaktive Displays nutzen. Dank Edge-Computing tauchen Kunden vor Ort in eine völlig neue digitale Welt ein, die ihnen einen realistischen Eindruck von Produkten und Waren vermittelt, der weit über die Möglichkeiten des Online-Handels hinausgeht.
Zudem ermöglichen KI und Automatisierung aber auch ein neues Maß an betrieblicher Effizienz. Wenn ein Lebensmittelhändler beispielsweise durch intelligente Systeme erfährt, dass sich tiefgekühlte Snacks freitags am besten verkaufen, kann er diese Artikel in seinen Lagern auch entsprechend vorhalten. Gleichzeitig können Steuersysteme in der Filiale die Kühltemperaturen unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Lagerbestände während der Woche überwachen und regulieren. Solche Ansätze leisten einen wichtigen Beitrag zur Dekarbonisierung, denn eine Unterkühlung der Ware um nur 1 Grad erhöht den Energieverbrauch der Kühlung um bis zu 3 Prozent. Insgesamt bieten Retail-Edge-Lösungen dem stationären Einzelhandel damit sehr gute Chancen, um sich erfolgreich neu zu erfinden und damit wieder ein fester Bestandteil der Customer Journey einer anspruchsvollen, zahlungskräftigen und technikaffinen Kundschaft zu werden.
Von Rainer Weigle, #SchneiderElectric