Ich möchte die Behauptung wagen, dass die Corona-Krise mit dem explosionsartigen Durchbruch von Remote-Arbeitsmodellen und distanzbedingten Virtual-First-Ansätzen zwar zunächst für Wirbel und Unsicherheit gesorgt hat, sich aber langfristig positiv auf die Gleichberechtigung auswirken wird.
Remote-Work in ihren Ursprüngen
Lange bevor nämlich Arbeit als Gegenteil von Freizeit definiert wurde und nicht dem eigenen Wohlstand, sondern dem Selbsterhalt diente, waren Aktivitäten wie etwa Wohnen und Schlafen räumlich kaum von solchen getrennt, die der Produktion von Nahrungsmitteln und Gebrauchsgegenständen dienen. Erst die Trennung von Heim und Arbeit begünstigte den Verbleib der Frau im Haus mit Aufgabenbereichen mit geringem oder ohne gesellschaftlichen Einfluss. Ein Gedankenspiel wäre nun, dass mit der neuen räumlichen Wiederzusammenführung von Wohnstätten und Arbeitsplätzen auch wieder neue Potenziale für Gleichberechtigung entstehen.
Virtual-First durchbricht Hierarchien und Verhaltensmuster
Ich teile die Überzeugung, dass die digitale Transformation und mit ihr Remote-Work auch die klassischen Führungsrollen langfristig überflüssig machen wird. Dieser Prozess birgt natürlich zahlreiche Herausforderungen. Denn wir alle sind natürlich von hierarchischen Modellen geprägt, die tief in uns verankert sind. Das zu verändern, sei die große Herausforderung und beginne bei scheinbar nebensächlichen Themen wie Statussymbolen – der markierte Parkplatz, der Firmenwagen, das Einzelbüro und so weiter, die als feine Unterschiede Hierarchien markieren –, wie Jörg Staff, Vorstand bei Fiducia & GAD IT AG kürzlich in einem Interview mit Haufe New Management sehr treffend ausführte. Die Verlagerung des Gros unserer Kommunikation in virtuelle Räume durchbricht Verhaltensmuster, die wir aufgrund unserer Sozialisation verinnerlicht haben. Ein jedwie gearteter Statuskampf in einer Videokonferenz fällt schwer oder ist gar unmöglich, wo wir doch nicht viel mehr als das Gesicht der GesprächsteilnehmerInnen sehen. Unser aller Gesprächsverhalten bei verteilter Arbeit wird automatisch kollaborativer.
Virtual-First erweitert den Talentpool
Dank verteiltem Arbeiten können Unternehmen künftig auf einen weitaus größeren Talentpool zugreifen. Ortsunabhängige Arbeit ermöglicht auch die Mitarbeit aus strukturschwachen oder abgeschiedenen Regionen, wo früher ein Umzug in eine teure Metropole Grundbedingung eines Arbeitsvertrages war. Virtual First eröffnet die Chance auf mehr und besser bezahlte Berufe von egal welchem Standort auf dem Globus aus. Ein großartiges Beispiel einer Homeoffice-Gewinnerin ist Teena Likhari. Die Inderin kündigte bereits 2018 ihren Job bei einem Silicon-Valley-Unternehmen, um sich Zuhause um ein erkranktes Familienmitglied zu kümmern. Die Arbeit aus dem Homeoffice ermöglichte ihr – als die Pandemie einsetzte – die Berufsausübung ohne Bruch. Dank ihrer Erfahrung in Remote-Work führt sie heute als Betriebsleiterin ein 100-köpfiges Team vom Wohnzimmer aus.
Virtual-First – diversity first
Eine konsequente Virtual-First-Strategie, wie sie Dropbox auch nach der Zeit der Pandemie leben wird, hilft dabei, kulturelle und technologische Barrieren zu durchbrechen und allerorts eine überfällige strukturelle Veränderung des Arbeitsplatzes in Gang zu setzen. Die benötigten Skillsets verändern sich zusammen mit der Arbeitswelt. Anstelle von physischer Präsenz und Dominanz rücken Fähigkeiten wie Empathie in den Mittelpunkt, die unerlässlich im virtuellen Arbeitsalltag sind. Auch im Sinne der Gleichberechtigung wird mit Virtual First ein wichtiger Schritt hin zu einem neuen Rollenbewusstsein getan. Virtual-First ermöglicht es Frauen und Männern gleichermaßen, ihre gesellschaftlichen Rollen und ihre berufliche Laufbahn individueller und unabhängiger von Raum, Zeit und Umständen selbst zu gestalten. Sobald die Pandemie überwunden ist, wird vieles, was wir währenddessen gelernt haben, erhalten bleiben – und das ist richtig gut so.
Von Andrea Trapp, Director of Business EMEA bei Dropbox