Die Digitalisierung fordert von Unternehmen ein vollkommen neues Denken in Bezug auf ihre Geschäftsprozesse. Organisationen, die jahrzehntelang erfolgreich stationär Geschäfte gemacht haben, fällt diese Umstellung allerdings besonders schwer. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass sich Veränderungen im Marktgeschehen, die sich in der Regel im Lauf mehrerer Jahre vollzogen haben, durch digitale Prozesse nun um ein Vielfaches beschleunigt haben. So sehen Unternehmen sich im Online-Business vielen geänderten Variablen gegenüber, die neue Anforderungen erschaffen. Diese machen sich nicht nur in der Kundenbeziehung, sondern auch im Wettbewerbsumfeld bemerkbar.
Transparenz und Vielfalt macht Kunden zu Experten
Denkt man noch etwa 25-30 Jahre zurück, lief ein typischer Einkauf in etwa so ab: Man betrat den Laden, schaute sich höflich um, staunte über die eindrucksvoll präsentierten Waren und wandte sich schließlich an einen kompetenten Berater vom Verkaufspersonal. Ziel des Gesprächs war es dann in der Regel, zu ermitteln, was der Kunde wünscht und ob das passende Objekt der Begierde innerhalb des Warenbestands der aufgesuchten Filiale vorhanden ist. Was es dort nicht gibt, war mehr oder weniger, zumindest in der Wahrnehmung der Verkäufer, nicht existent. Mit der abschließenden, resignierten Frage seitens des Kunden „Könnten Sie mir vielleicht sagen, wo ich das stattdessen finden könnte?“ waren die Berater in der Mehrheit der Fälle überfordert. Der Kunde hatte das Gefühl, gegen eine Wand zu laufen, denn derjenige, der ihm mit größter Wahrscheinlichkeit hätte helfen können, war ratlos. Der Kunde war nun wieder mit der Aufgabe, Wege aufzutun, mit denen er seinem Wunschprodukt näher kommen kann, auf sich allein gestellt.
Heutzutage hingegen bieten sich den Kunden online genug Verfügbarkeitswege. Sie müssen noch gar nicht konkret wissen, welches Produkt sie möchten, sondern bekommen, wann immer sie es wollen, selbst für überaus diffuse Wunschäußerungen konkrete Vorschläge: Es genügt, den Begriff „Weihnachtsgeschenke“ in eine Suchmaschine zu tippen, schon tauchen die von einzelnen Onlineshops auf diese Anfrage optimierten Seiten mit konkreten Produktvorschlägen für Freunde und Familie auf. Wenn eine erste Auswahl getroffen ist, wird auf Testportalen noch ermittelt, ob beispielsweise der Kaffeevollautomat qualitativen Ansprüchen genügt, bevor über Preisvergleichsportale recherchiert wird, wo das gute Stück am günstigsten zu bekommen ist. Der Kunde verfügt also bereits über ein enormes Hintergrundwissen, bevor er weitere Schritte in Richtung Einkauf unternimmt.
Kundenbedürfnis: Serviceerlebnis statt Produkterwerb
Im Gegensatz zum Einzelhandel profitierten vor allem regulierte Branchen, wie das Finanz- oder Telekommunikationswesen, lange Zeit von überaus treuen Kunden. Für die Entscheidung über neue Mobilfunkverträge oder Finanzprodukte war der Weg in die Filiale und die persönliche Beratung stets der erste Anlaufpunkt. Die Wertschätzung des persönlichen Kontakts ist mit den Möglichkeiten des Internets allerdings deutlich gesunken. Allgemein zugänglichen Preisvergleichs- und Testportale haben zudem den Informationsvorsprung des Verkaufspersonals deutlich schrumpfen lassen. Sie finden sich gut informierten Kunden gegenüber, die ihren eigenen Fähigkeiten in der Informationsbeschaffung deutlich mehr Vertrauen schenken. In der Regel haben Kunden ihr Problem bereits umfangreich durchdacht und verschiedene Lösungswege im Kopf. Für die Kundenberater entwickelt sich das Verkaufsgespräch damit zu einer schmalen Gratwanderung: Lassen sie den Kunden bekannte Tatsachen außer Acht, oder wird deutlich, dass sie keine Kenntnis über gewisse Angebote besitzen, kann das Vertrauen des Kunden im Nu verspielt sein und das Verkaufsgespräch erfolglos enden.
Ohnehin werden Transaktionen in der Mehrheit der Fälle bevorzugt online abgewickelt. In der Regel suchen Kunden den persönlichen Kontakt nur noch, wenn sie den Eindruck haben, dass ihnen online nicht unmittelbar eine Lösung geboten wird, die ihren Gewohnheiten und ihrem Anspruch an Komfort und Nutzen entspricht. In erster Linie sind sie nicht auf der Suche nach dem gewünschten Produkt, sondern nach einem Anbieter, der ihnen dieses mit dem besten Service bieten kann. Im digitalen Umfeld geht es Kunden also nicht mehr vordergründig um den Produkterwerb, sondern um die beste Serviceerfahrung. Dies führt dazu, dass sich für Unternehmen vollkommen neue Kundengruppen entwickeln, da die Kaufmotivation im digitalen Umfeld von zahlreichen weiteren Faktoren beeinflusst wird: Für manche Onlinekunden mag beispielsweise der unübersichtliche Aufbau einer Website bereits ein Grund für einen Kaufabbruch sein. Andere wiederum erwägen einen Abbruch des Einkaufs, wenn ihnen die von ihnen bevorzugten Zahlungsoptionen nicht angeboten werden. Flexibilität können Onlinehändler von ihren Kunden leider nur bedingt erwarten: Nur in Ausnahmefällen, beispielsweise wenn der Händler der einzige Anbieter für das gewünschte Produkt ist, sind Onlineeinkäufer bereit, ihre Präferenzen hinten an zu stellen und eine andere Zahlungsoption in Kauf zu nehmen. Ansonsten fällt die Entscheidung leicht: Der Kunde macht sich auf die Suche nach einem anderen Onlineanbieter, der die Optionen bieten kann, die er sich wünscht.
Der Wettbewerb: Wer kennt seine Kunden besser?
Was das Wissen um die Wünsche der Kunden anbelangt, genießen große Plattformen einen deutlichen Vorsprung. Sie haben eine umfassende Lernphase hinter sich und konnten in Zeiten noch geringeren Wettbewerbs Verfahren entwickeln und Prozesse auswerten, um ihr Onlineangebot noch besser auf ihre Kunden abzustimmen. Große Internetgiganten mit breiter Kundenbasis prägen damit wesentlich die Erwartungshaltung an die digitalen Angebote. Ob automatisierte Empfehlungen oder individualisierte Angebote: Die Kunden sind es gewöhnt, digital im Mittelpunkt zu stehen, da alle Schritte der Customer Journey für sie fortlaufend optimiert wurden und werden. Möglich wird dies vor allem durch eine umfassende Erhebung und Auswertung von Daten zum Verhalten digitaler Kunden. Hier herrscht allerdings noch ein deutlicher Nachholbedarf: Eine Studie des IT-Branchenverbandes Bitkom kam 2017 zu dem Schluss, dass „Kunden in der digitalen Welt vielen Unternehmen noch fremd bleiben“: So hat ein Drittel der Unternehmen bisher noch nicht die Möglichkeiten der digitalen Datenerhebung genutzt, um ihre Kunden besser kennenzulernen und passgenaue Angebote zu entwickeln.
Daraus lässt sich auch schließen, dass viele Unternehmen nach wie vor in klassischen analogen Denkmustern operieren und an branchenspezifischen Produkt- und Innovationszyklen, die sich über Jahrzehnte hinweg entwickelt haben, festhalten. In der digitalen Geschäftswelt ist allerdings der individuelle Komfort ein Wettbewerbskriterium. Dies beweisen immer wieder neue, innovative Startups, die mit Online-Geschäftsmodellen branchenführende Unternehmen herausfordern.
Für Unternehmen, die die digitale Transformation meistern möchten, ist es damit essentiell, ihre Kunden in der Onlinewelt abzuholen. Dazu gehört die Ermittlung ihrer Bedürfnisse sowie die Gestaltung der Customer-Journey als möglichst nahtlose Benutzererfahrung. Dies wird umso bedeutender angesichts der Tatsache, dass mit der zunehmenden Anwendung von Künstlicher Intelligenz das Wettbewerbsgefälle sich weiter verstärken wird. KI-Technologien bieten zahlreiche Möglichkeiten zur Prozessoptimierung, beispielsweise mit der Auswertung umfangreicher Datensätze, der automatischen Bearbeitung von Standard-Kundenanfragen oder individuellen verhaltensbasierten Kaufempfehlungen. Auch in diesem Gebiet genießen erfahrene Marktteilnehmer einen entscheidenden Vorteil. Um nicht ins Hintertreffen zu geraten, empfiehlt es sich für Unternehmen, ihr Geschäftsmodell umfassend nach digitalen Aspekten zu durchdenken und auch neuen Technologien gegenüber aufgeschlossen zu sein.
Von Oliver Obitayo, CSO IDnow
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