Amazon-Chime: Experiment oder Standard?

Mathias Hein, Consultant, Buchautor, Redakteur
Mathias Hein, Consultant, Buchautor, Redakteur

Amazon ist für das Experimentieren mit neuen Diensten bekannt. Aus diesem Grund ist die Ausweitung der Angebote in Richtung Unternehmenskommunikation und Collaboration keine Überraschung.

In den vergangenen Jahren hat Amazon immer wieder in aller Stille neue Geschäftsanwendungen auf den Markt gebracht. Im November 2013 wurde „WorkSpaces“ veröffentlicht. Hierbei handelte es sich um einen Virtual-Desktop.Service. „WorkDocs“, ein Dateispeicher- und Freigabedienst, kam im Juli 2014 erstmals unter dem Namen „Amazon Zocalo“ auf den Markt. Im Januar 2015 stellte Amazon „WorkMail“, ein Programm zur sicheren Übermittlung von E-Mails und Kalenderfunktionen, vor. Jetzt wird mit Chime von Amazon ein Konferenz-und Workstream-Messaging-Dienst eingeführt.

Die Angebote der Amazon-Business-Application-Services konkurrieren konzeptionell mit Microsoft-Office-365 und Googles-G-Suite. Alle drei Angebote verfügen über E-Mail-, Laufwerks-, Messaging-, Videokonferenzfunktionen und Produktivitäts-Apps. Jedoch bieten weder Google noch Amazon entsprechende Telefonie-Services an.

Chime ist das Resultat der von Amazon im Herbst 2016 getätigten Akquisition von Biba. Dieses Startup-Unternehmen bot WebRTC-Services an, welche eine Vielzahl an Konferenzfunktionen realisierten. Biba galt damals als einer der frühen App-Entwickler, die Audio-, Video- und Webkonferenzen in einem einzigen Angebot zusammenfassten.

Amazon-ChimeTrotz der Marktmacht von Amazon unterscheidet sich der neue Chime-Service kaum von der ursprünglichen Biba-App. Die Kernfunktionen ähneln sich und trotzdem fehlen Chime noch die Glanzpunkte reifer Unternehmensanwendungen. So bietet Chime beispielsweise nicht die Möglichkeit, persistente Nachrichten zu durchsuchen oder Videos aufzunehmen. Chime ist weder browserfreundlich noch interoperabel mit ähnlichen Diensten.

Obwohl derzeit die in Funktionen von Chime noch begrenzt sind, bietet der Service eine hervorragende Qualität bei Video- und Audio-Konferenzen. Die App siedelt sich funktionell in dem Bereich zwischen Skype und Gotomeeting an.

Chime stört den aktuellen Markt nicht und fällt momentan nicht weiter auf. Man muss sich jedoch die Frage stellen, was ist Amazons längerfristige Position im Bereich der Unternehmenskommunikation und der Collaboration?

Amazon ist immer an dem IT-Dienstleistungsmarkt interessiert. Das Unternehmen ist der Marktführer im Bereich der Cloud-Technologien und wird weit besser bewertet als Google, Microsoft und IBM. Amazon dominiert im Cloud-Bereich mehrere Marktsegmente und stellt die zugrunde liegende Infrastruktur bereit, die von vielen Anwendungsanbietern (auch UCaaS-Anbietern) genutzt wird.

Inzwischen verfügt Amazon über das Know-how und ein zunehmendes Angebot an Technologien, um den Markt im Bereich Unternehmenskommunikation und –Collaboration nachhaltig zu verändern. Zusätzlich zu Biba wurden von Amazon in den vergangenen Jahren mehrere kommunikationsbezogene Akquisitionen getätigt. Im Oktober 2013 wurde die Elemental Technologies (welche Highspeed-Video-Software entwickelt hat, die Inhalte auf verschiedenen Bildschirmen und Geräten darstellen kann) und im August 2014 wurde Twitch (ein Live-Streaming-Service für Gaming) in den Konzern integriert. Amazon verfügt darüber hinaus über eine eigene Carrier-Kommunikationsinfrastruktur auf Basis der Broadsoft-Lösung.

Abgesehen von der Technologie und dem Geld hat Amazon das Potenzial den Markt nachhaltig zu verändern. Das Unternehmen ist nicht an kurzfristigen Gewinnen orientiert. Stattdessen wird laufend in neue und verbesserte Dienstleistungen investiert, was sich wiederum in langfristig höheren Gewinnen niederschlägt. Auch ist das Unternehmen dafür bekannt, dass es in neue Bereiche und in strategische Projekte investiert.

Noch lässt sich nicht abschätzen, ob die Unternehmenskommunikation und Collaboration für Amazon ein neues Experiment oder ein Projekt mit einer hohen Priorität darstellt. Die momentane Preisstruktur weist jedoch mehr auf ein Experiment hin. Der kostenlose Service ermöglicht eine Videozusammenarbeit mit nur einer Person. Das Plus-Angebot (2,50 Dollar pro Benutzer und Monat) erweitert die Grundfunktion um Bildschirmfreigaben Die Power-Nutzer können Sessions mit mehr als einer Person realisieren. Hierzu benötigen diese den „Pro-Plan“, welcher pro Benutzer und Monat 15 Dollar kostet.

Angesichts der derzeitigen Funktionsbeschränkungen und der aktuellen Preisgestaltung wird vermutet, dass Amazon kein direktes Angebot für die Endnutzer im Sinn hat. Stattdessen können die Amazon-Partner diese Grunddienste nutzen und mit eigenen Services veredeln. So beabsichtigt beispielsweise Vonage zukünftig Chime-Pro direkt in seinem eigenen Business-UCaaS-Angebot ohne Aufpreis zu bündeln. Über die Reseller-Preise von Amazon zu Partnern ist bisher nichts bekannt. Eventuell plant Amazon seine Partner für die Bereitstellung aller seiner Business-Anwendungen zu nutzen?

Fazit

Es ist nicht überraschend, dass Amazon den lukrativen Markt der Unternehmenskommunikation und Collaboration im Sinn hat. Das Unternehmen begann vor langer Zeit einmal als Buchhändler und ergänzte über die Jahre sein Portfolio um Plattform-Services für Unternehmens-IT und -Marketing Es bietet Funktionen wie beispielsweise Auktionen, Publishing, Logistik und Finanzdienstleistungen. Darüber hinaus werden im Consumer-Bereich Unterhaltungselektronik und Video-Dienste bereitgestellt. Es scheint, dass auf der möglichen Angebotsliste von Amazon alle Branchen vertreten sind. Daher würde es mich nicht verwundern, wenn die Unternehmenskollaboration als nächster Markt aggressiv erschlossen werden wird.